Je weiter der Urlaub sich dem Ende nähert, desto schneller scheint einem die Zeit zwischen den Fingern hindurchzurinnen. Ich würde so gern noch so viele Orte auf La Digue besuchen, auch das Adlernest gehört dazu.
Solange ich auf den Seychellen bin und auch schon Wochen zuvor herrscht große Hitze, kaum je eine Wolke am Himmel, da wird so ein Aufstieg aufs Adlernest schweißtreibend. Aber da ist wieder dieser Druck, das noch einmal machen zu müssen. Von Wanderwegen, die vom Adlernest zu Anse Cocos und zur Petite hinunterführen, habe ich erzählt bekommen, Guides bieten das an, aber die Strecken würden durchaus auch allein gegangen. Ich habe schon Vorahnungen von Wanderergruppen wie an einem sonnigen Herbstnachmittag zum Brocken. Es wird nicht mehr besser werden, also besser jetzt nochmal machen.
Hinauf zum Bellevue. Dagegen war der Copolia Trail ja ein Kaffeekränzchen. An jedem schattigen Fleckchen muß ich mich ausruhen und genügend Willenskraft zusammensammeln, um bis zum nächsten Schattenplatz zu gehen. Dabei habe ich Gelegenheit, die auch hier oben entstehenden Baustellen zu betrachten.
Unterwegs begegnet mir niemand, erst an der Weggabelung mit der Marienstatue kommt mir eine größere Gruppe Franzosen auf Fahrrädern entgegen, die, manche zaghafter und manche waghalsiger, die Verlässlichkeit ihrer Bremsen testen. Ich würde mich das nicht trauen, vom Bellevue mit dem Leihfahrrad hinunterzufahren. Naja, mit meinem eigenen wohl auch nicht.
Das Bellevue selbst sieht von außen aus wie immer, irgendwie halbfertig. Baumaterial auf Europaletten,
eine Art Flaschenzug, ein Arbeiter sitzt in der Sonne und baumelt mit den Beinen.
Das wird nie mehr fertig werden.

Nur von innen verändert es sich jedesmal. Inzwischen ist aus der ehemaligen Bretterbude ein richtiges Restaurant geworden, es sieht sogar ganz hübsch aus. Um diese Uhrzeit ist es noch fast leer, aber so richtig los geht es hier jetzt wohl auch erst abends, wenn, wie in vielen anderen Restaurants auf La Digue, abendliches Buffet angeboten wird. Hier für 500 Rupien, Taxishuttle inklusive. Das Essen soll sehr gut sein.
Eine Speisekarte gibt es nicht, tagsüber gibt es nur wenig Auswahl und die Preise muß man erfragen. Ich will aber zunächst weiter aufs Adlernest und klettere den Pfad hinauf. Der Weg ist inzwischen breit ausgetreten und rutschig vor losem Geröll. Bei Regen möchte ich hier nicht gehen, man sieht, daß hier inzwischen regelmäßig viele Menschen entlanggehen. Die Anzahl Fahrräder, die unten am leeren Restaurant geparkt ist, läßt darauf schließen, daß die sich alle hier oben herumtreiben.
Ich stehe ein wenig unschlüssig auf dem Pfad, gehe noch etwas weiter bis in den Wald, wo es schattig ist. Will ich wirklich noch bis hinauf auf den Bergrücken und dann da womöglich auf die nächste Menschenansammlung treffen und mir die Erinnerungen an schöne Sonnenuntergänge dort oben am Ende noch verderben?
Irgendwie bin ich es langsam leid, die ganze Insel frustriert mich gerade nur noch und ich nerve mich selbst, wie ich mich von meiner "Endzeitstimmung" unter Druck setzen lasse und auf der Jagd nach etwas, das meinen Erinnerungen entspricht, über die Insel fahre. Ich drehe kurzentschlossen um und setze mich ins Bellevue. An mehreren Tischen um mich herum sitzen inzwischen Menschen, die Pläne schmieden, „da noch mal eben raufzugehen“. Sollen sie machen, ich bleibe hier, trinke Mangosaft und schaue hinüber nach Praslin. Irgendwo da hinten war ich gestern, auf der Schildkrötensandbank. Schön war das.
Auf dem Rückweg setzt der am frühen Nachmittag stärker werdende Verkehr ein. Radfahrer kommen mir entgegen, davon einer, der auf einem der auf der Insel gängigen schlüpferfarbenen Fahrräder mit Korb und allem bis hier oben
gefahren kommt. Er ist puterrot im Gesicht und ich starre ihm sprachlos entgegen. Seine Technik ist erstaunlich, er schafft das, indem er die gesamte Straßenbreite ausnutzend kleine Serpentinen fährt. Das ist nicht ganz ungefährlich, vor allem vor oder hinter Kurven, ebenso wie der Versuch der Franzosengruppe am Vormittag, die Räder einfach mal laufen zu lassen. Es gibt nämlich auch hier oben Momente, in denen auf der Straße für Radfahrer eigentlich kein Platz mehr ist:
Ein paar schöne Dinge sehe ich aber auch (und damit ist nicht das unvermeidliche Baumaterial im Hintergrund gemeint

),
ein besonders schöner Ingwer:
und endlich mal eine freilaufende Schildkröte
Was La Digue betrifft, hat meine Stimmung hier und heute den Tiefpunkt erreicht. Wenn ich mir den Urlaub nicht versauen will, muß ich tun, was man immer tun muß, wenn man die Dinge nicht ändern kann: Man muß loslassen. Das ist eben nicht mehr das La Digue, das ich kennengelernt habe – und dazu muß man sagen, daß ich La Digue schon gar nicht mehr so unberührt kennengelernt habe, wie es bis in die neunziger Jahre hinein gewesen sein muß. Sich mit einer gewissen Entwicklung zu arrangieren, mit einer Verbesserung der Lebensverhältnisse für die Einheimischen, mit einem Einzug von Technologie und einem Ausbau der Infrastruktur, das sollte niemanden überfordern, der in ferne Länder reist. Aber was hier passiert, hat mit Entwicklung nichts mehr zu tun, ich empfinde es als ein Ausschlachten, ich frage mich, wo zwischen den Gästehäusern und Hotels, Restaurants, Bars und Souvenirbuden hier denn noch das eigentliche La Digue stattfindet? Versteckt im Unterholz in den Häusern der Locals, in dem einzelnen Oktopusfischer an der Grosse Roche und den Samosas im Inderladen in La Passe? Mir ist inzwischen klar geworden, daß es keinen Ort auf der Insel gibt, den ich noch unverändert vorfinden werde und beschließe, es ab jetzt einfach so zu akzeptieren, wie es ist und das Beste daraus zu machen. Und wie zur Bestätigung meiner Entscheidung versöhnt mich La Digue dann an den beiden letzten Tagen noch mit ein paar besonders schönen Erlebnissen.