Es ist gleich aufgefallen, daß wir gestern nicht zum Pizzaessen im Fare Suisse waren. Raratea, die Mitarbeiterin, die unter uns nur "die mit den Kulleraugen" heißt und die heute das Frühstücksbuffet betreut, gibt uns den Ratschlag, beim nächsten Sonnenuntergang auch bei wolkenverhangenem Himmel länger auszuharren, denn erst ganz zum Schluß kämen die schönen Farben.
Als sie sich nach der Papeno’o-Tour erkundigt, antworten wir so diplomatisch wie möglich, immerhin konnte der Guide ja auch nichts für die Gruppenzusammensetzung. Richtig euphorisch sind wir aber auch nicht, das scheint sie zu merken und meint, daß die Inselrundfahrt heute aber ganz sicher toll würde. Fabrice, unseren Guide, kennt sie persönlich, und der sei großartig.
Diesmal warten wir auch brav unten an der Straße. Im Auto die nächsten Honeymooner, ein französisches Paar, das danach auf die Aranui geht. Auf dem Beifahrersitz ein US-Amerikaner, der von Hawai’i erzählt, wo ihm Polynesier feindselig gegenüber getreten seien. Fabrice meint, das sei hier nicht so, die Franzosen seien willkommen. Im Stillen wage ich zu bezweifeln, daß die Aussage so pauschal stimmt, aber unser Guide, der ja auch heute Franzosen in der Gruppe hat, läßt sich weder jetzt noch später zu kritischen Äußerungen verleiten, als er uns seine eigene Geschichte erzählt.
Der Marae von Arahurahu ist der bekannteste Tahitis. Ein Marae ist eine heilige Stätte, an der auf aus Lavagestein angelegten Plattformen kultische Handlungen vollzogen wurden; gelegentlich, wenn die verschiedenen Völker Polynesiens sich gegenseitig zu Festtagen Besuche abstatten, findet dies auch heute noch statt.
Hier gibt es zwei Tiki, die von Raivavae, einer Insel ganz im Süden Französisch Polynesiens, die auch die letzte Station unserer Reise sein wird, hergebracht wurden. Wir werden, später, wenn wir auf Raivavae sind, noch genauer hören, was sich zugetragen hat, als man die drei Tiki, die eine Familie von drei Gottheiten repräsentieren, von Raivavae hierher holte. Fabrice erzählt uns, der die weibliche Gottheit repräsentierende Tiki werde für den Tod aller vier Arbeiter verantwortlich gemacht, die sie bewegt hätten.
Da steht sie also, die Prinzessin Heiata, in ihren Armbeugen Frangipaniblüten, von Frauen hineingelegt, die sich Fruchtbarkeit erbitten, und wir sollen mit ihr für ein Foto posieren. Wohl ist mir dabei nicht, ich bin nicht im kirchlichen Sinne religiös, habe aber durchaus einen gewissen Respekt vor den spirituellen Ansichten anderer Kulturen und wer weiß, ob womöglich etwas dran ist, an den Geschichten von vier toten Umzugshelfern. Fabrice versichert uns aber, den Tiki könnten wir nicht bewegen, auch nicht ausversehen, und die Prinzessin hätte nichts dagegen, wenn wir den Arm um sie legen. Ob ich bei seinen Ausführungen abgelenkt war oder er es gar nicht erwähnt hat, kann ich rückblickend nicht sagen, später lese ich aber, daß sowohl die Prinzessin, als auch ihr dazugehöriger Mann, Prinz Moana, und das gemeinsame Kind, Moana Iti, der kleine Moana, in Wirklichkeit ein paar Kilometer entfernt im Musée Gauguin stehen und wir uns an eine Kopie gelehnt haben. Also alles gut, sollten wir die Prinzessin versehentlich geschubst haben.
Der Marae ist gut in Schuß, was daran liegt, daß er vor ein paar Jahren erst aufwändig saniert wurde. Zuvor war er, wie viele andere Orte, die zur polynesischen Kultur gehören, von Vernachlässigung gezeichnet. Fabrice, der älter sein muß, als er aussieht, berichtet, er selbst gehöre noch zu der Generation, die Tahitianisch erst mühsam lernen mußte. Zu seiner Schulzeit war Französisch einzige Unterrichtssprache und das Tahitianische war zwar nicht verboten, wurde aber nicht gefördert.
Da die polynesische Kultur zur Zeit seiner Eltern noch zugunsten der französischen unterdrückt wurde, hätten diese ihm auch nichts von dem Wissen seiner Vorfahren vermitteln können. So wußte er nicht, daß die Knochen, mit denen er in den Felsen oberhalb des Marae spielte, aus Begräbnisstätten stammten. Die Felsen um uns herum sind voll von Höhlen, in denen die Polynesier vor der Kolonisierung ihre Toten beerdigten, so hoch wie möglich, um sie dem Zugriff verfeindeter Gruppen zu entziehen. Es war nicht unüblich, daß die Gegner versuchten, sich der Schädel verstorbener Krieger oder anderer hochrangiger Persönlichkeiten zu bemächtigen, um sie als Trinkschalen zu gebrauchen. Ebenso wie beim ritualisierten Kannibalismus, der ja nicht der eigentlichen Nahrungsaufnahme diente, glaubte man, sich hierdurch etwas von der körperlichen oder geistigen Überlegenheit des Toten anzueignen.
Heute, so erzählt uns Fabrice, hätten sich die Polynesier wieder ihrer Bindung an das Land, aus dem sie stammen, besonnen. Ein Polynesier sei Teil des Fenua, des Bodens, von dem er stamme, und das Fenua gibt ihm seine Kraft, das Mana. Das Mana ist übrigens nicht nur Polynesiern vorbehalten, heißt es, jeder kann es spüren, auch Besucher.
Wir fahren einmal im Uhrzeigersinn um Tahiti Nui. Nui bedeutet „groß“ auf Polynesisch und wo ein großes ist, da gibt es natürlich auch ein kleines, Tahiti Iti, aber das dauert noch ein paar Tage, bis wir dorthin kommen, heute beschränken wir uns auf die Hauptinsel.
Die Grotte von Mara’a ist eine von Moosen und Farnen überwucherte Kaverne mit einem kleinen Quellgewässer im Inneren, in dem angeblich schon Paul Gauguin gebadet haben soll. Es ist kalt und düster und die Fotos sind nicht zeigenswert, aber die Farne, die in langen Wedeln von den feuchten Höhlenwänden hängen, sind beeindruckend anzuschauen. Es ist Schwertfarn, den wir hierzulande gern als Zimmerpflanze halten und uns dank der trockenen Heizungsluft, die dieser Farn nicht verträgt, über die permanent herabrieselnden vertrockneten Fiederblättchen ärgern.
Am Trou du Souffleur von Arahoho halten nicht lange, es sei nicht windig genug und nicht genug Wellengang, es werde sowieso keine Wasserfontäne geben. Das Blowhole heult ein bißchen unheimlich, aber das Interessanteste ist ein winziger weißer Fleck weit vor uns an der Küste, den Fabrice uns zeigt. Aus irgendeinem Grund hat sich hier, wo es eigentlich ausschließlich schwarze Strände aus Lavagestein gibt, ein winziges Korallenriff gebildet, in dem kleine Kolonie von Papageienfischen lebt, deren Ausscheidungen das bilden, was wir als weißen Korallensand kennen.
Abgesehen von den wenigen Quarzsandstränden wie zum Beispiel am Panhandle in Florida, entstehen die meisten der tropischen Strände der Welt so und hier ist es ein wenige Meter breites Stück weißer Strand, der auf dem Privatgrund eines glücklichen Polynesiers liegt. Wir können es nur von weitem sehen, es ist so klein, daß man es auf den Fotos kaum erkennen kann.
Fast genau auf der anderen Straßenseite liegen die Wasserfälle von Faarumai.

Man überquert eine kleine bogenförmige Brücke und dann geht es einen Hügel hinauf, hinter dem man die Fälle schon donnern hören kann, zumindest den ersten. Die beiden anderen Fälle liegen tiefer im Inland und bis dahin gehen wir auf dieser Rundfahrt nicht.
Der erste Fall, Vaimahutu, donnert aus 100 Metern Höhe in ein Wasserbecken, in dem man bis vor ein paar Jahren sogar noch baden durfte, bis ein Tourist dabei durch einen Steinschlag getötet wurde. Es ist der höchste Wasserfall, an dem ich je gestanden haben. Die Sage zu den Fällen berichtet, daß dahinter der Geist des Tals mit einer Prinzessin, die er vor ihrem grausamen Vater gerettet hat, lebt. Wie die Legende will, sollen sie dort sehr glücklich sein, vielleicht möchten sie einfach nicht durch Badegäste gestört werden.
Wasser ist allgegenwärtig. Auf einer Halbtagsstour schafft man es zwar nicht, den Botanischen Garten zu besuchen, aber die Wassergärten von Vaipahi gehören zum Programm und die sind absolut sehenswert.
Die unglaubliche Vielfalt an Pflanzen, insbesondere an Nutzpflanzen wie Papaya, Pampelmusen, Eßkastanien, Litchees und was es da noch alles gibt, ist eigentlich hier nicht endemisch. Wenn man den ersten europäischen Entdeckern glauben will, waren die Hänge Tahitis früher überwiegend von bodendeckenden Pflanzen und Baumfarnen bedeckt und die vorwiegende Nahrungspflanzen waren Taro und Brotfruchtbäume, deretwegen damals die Bounty nach Tahiti kam. Die Kokospalme dürfte allerdings auch schon da gewesen sein, denn die ist quasi-endemisch, schon die ersten Menschen, die die Inseln besiedelten, haben sie mitgebracht.
Woher die stammten, darüber war man sich ja lange uneinig. Ganz vorn im Meinungsrennen lag Südamerika, vor allem Chile. Wir werden später auf den Marquesas auch noch einen eindeutigen Beweis zu sehen bekommen, daß es einen kulturellen Austausch mit der Urbevölkerung Chiles gegeben haben muß, aber ob Polynesien von dort aus besiedelt wurde, wußte man nicht. Thor Heyerdahl hat mit seiner Fahrt mit der Kon Tiki versucht, genau dies zu beweisen, und weil es ihm gelang, Tahiti auf dem Seewege mit einem Holzfloß zu erreichen, meinte man lange, daß man das damals auch geschafft haben könnte.
Aber wie viele evidenzbasierte Erkenntnisse wurde auch diese durch die Beweise zunichte gemacht, die erstmals die Genetik liefern konnte. Durch DNA-Vergleiche weiß man heute, daß die Ursprünge der Bevölkerung Polynesiens in Taiwan liegen.
Der Wassergarten von Vaipahi ist wie ein kleiner botanischer Garten, durch den kleine Wasserläufe fließen, die in einen riesigen Seerosenteich münden. In den Bächen leben heilige Aale, Fabrice versucht, einen für uns anzulocken, aber es gelingt ihm nicht, die Aale haben heute keine Lust. Ist mir ganz recht, ich habe in meiner Jugend einmal zuviel die Blechtrommel gesehen, heilig hin oder her, ich finde Aale eklig.
Sehr viel besser gefällt mir der Ingwer, sie haben hier verschiedene Arten, riesige, wie wir sie vorgestern in den Gärten in Papeno'o gesehen haben, aber auch die kleineren mit den roten Fruchtständen, in denen sich eine würzig duftende Flüssigkeit sammelt, die man mit der Hand auspressen kann. Das ist Shampoo-Ginger, die Frauen in den Tropen verwenden ihn tatsächlich zur Haarpflege, er fühlt sich seifig an und schäumt auch. Wenn man die Pflanze danach in Ruhe läßt, füllt sie sich erneut von selbst.
Gesehen habe ich die Pflanze schon mehrmals, aber daß wir sie ausgerechnet hier, in einer offiziellen Parkanlage, selbst ausdrücken dürfen, hätte ich nicht gedacht. Der Amerikaner aus unserer Gruppe und ich klettern mit Fabrice' Erlaubnis über die Absperrung und quetschen einen Ingwer aus.
So sieht das dann aus:
https://www.youtube.com/shorts/KWXfPzPkhMY
Natürlich gibt es auch jede Menge Nahe und außerdem einen Baum mit Rambutan. Rambutan werden oft als die leckersten Lychee bezeichnet, was vielleicht daran liegt, daß es gar keine sind. Es ist eigentlich eine andere Pflanze, sieht aber genau so aus, schmeckt nur noch viel besser. Auch hier dürfen wir direkt vom Baum pflücken, keine Ahnung, ob das alles immer so locker ist, oder ob das nur in Begleitung eines Guides erlaubt ist. Allein hätte ich mich das jedenfalls nicht getraut, hier einfach mal drauflos zu ernten.
Der Wassergarten war für mich das Highlight der Tour, das für den Mister kommt erst noch.
Der Leuchtturm an der Pointe de Vénus, so sagt man, sei der schönste Tahitis. Benannt wurde die Landspitze von James Cook nach dem astronomischen Ereignis, das er hier nach seiner Ankunft beobachtete, dem Transit der Venus. Und zu James Cook gehört unweigerlich der Name Bligh und so sagt der Mister, daß er ja eigentlich auch gern noch in die Matavai-Bucht gefahren wäre. Dort, wo seine meuternde Mannschaft Captain Bligh aussetzte und die Geschichte der Meuterei auf der Bounty endet, vor der Vulkaninsel Kao in Tonga, waren wir schon. Hier könnte man nun den Anfang der Geschichte sehen, denn in der Bucht von Matavai legte die Bounty damals an, als sie Tahiti erreichte.
Als wir den Leuchtturm umrunden und dahinter auf ein kleines Denkmal stoßen, das an die Bounty erinnern soll und auf dem die Portraits von Marlon Brando und seiner tahitianischen Ehefrau abgebildet sind, frage ich Fabrice, warum das hier steht. Der Familie Brando gehört seit den Dreharbeiten zum Spielfilm über die Meuterei auf der Bounty ein Atoll, Tetiaroa, aber damit kann es nichts zu tun haben. Ob die Matavai-Bucht hier in der Nähe sei, frage ich. Fabrice lacht und meint, das hier
ist die Matavai Bucht.
Zum Glück gibt es hinter dem Leuchtturm eine kleine Roulotte, die anderen aus der Gruppe haben Hunger und holen sich hier etwas zu essen, so daß der Mister genug Zeit hat, sich die Bucht der Sehnsucht nochmal ausgiebig anzuschauen.
Dann geht es zurück zum Hotel, ohne weitere Stops, was wir bedauern, denn unterwegs sehen wir noch viele schöne Ecken, unter anderem einen Zwillingswasserfall am Rand einer einsamen Wiese. Ooooh, machen alle im Auto, aber Fabrice meint, das sei Privatgrund und da dürfe man nicht hin. Wir können noch nicht ahnen, daß wir die Fälle noch aus der Nähe sehen werden, ganz privat.
Zurück am Hotel ist es erst früher Nachmittag. Wir ruhen uns ein bißchen aus und dann gehts hinunter an den Strand von Hokule'a, neuer Versuch Sonnenuntergang hinter Mo'orea. Das Ergebnis des heutigen Tages: Mo'orea mit Fähre.
Wir befolgen den Rat von Raratea und bleiben bis zum Einbruch der Nacht. Tatsächlich verfärbt sich der Himmel kurz vorher noch für einen Moment tieflila. Hoffentlich erwischen wir noch einen Abend ohne Wolken, wir geben jedenfalls nicht auf.
Die Sache mit den Roulottes auf der Place Vaiete schlagen wir uns erstmal aus dem Kopf, die Sache mit den Allzweck-Woks ist irgendwie nicht zu lösen und die Alternative Burger und Fritten hatten wir in Florida fürs erste zur Genüge. Aber wir haben gestern auf dem Rückweg schon eine Alternative entdeckt, ein italienisches Restaurant mit großem Innenhof. Gemütlich sieht es aus, mit Springbrunnen und Kerzenbeleuchtung. Die Speisekarte ist üppig, es gibt auch jede Menge Salat, nach all der Pizza fehlt uns der schon ein bißchen. Trotzdem es ein italienisches Restaurant ist, ist der Einfluß der französischen Küche aber unverkennbar, fast zu jedem Gericht gibt es Blauschimmelkäse. Gottseidank mögen wir den, denn wir können noch nicht ahnen, daß er uns für den größten Teil der Reise begleiten wird. Denn zwei Dinge gibt es in Französisch Polynesien auf jeder Insel, und sei sie noch so einsam gelegen: Günstiges, weil staatlich subventioniertes Baguette und Roquefort.
Müde und voller Eindrücke schleppen wir uns den Berg hinauf in die Schweizer Enklave. Morgen ist Sonntag und Muttertag, da müssen wir nach Hause schreiben, und dann gibt es zum Abschluß noch einen Stadtbummel in Papeete.