Wir biegen an der T-Kreuzung also nach rechts ab und fahren nach Norden, durchqueren Downtown Okeechobee, worüber es wirklich nichts Besonderes zu berichten gibt, und folgen dem Highway 441.
Das Land ist weit, viele Rinderweiden, auch Pferde, und immer dieser Stacheldraht, ich frage mich, wie das nur gutgeht mit den Pferden, aber tut es ja anscheinend. In Deutschland hielte kein vernünftiger Mensch mehr seine Pferde so.
Wir wären wahrscheinlich bald wieder auf dem Turnpike, würde es nicht auf einmal am Horizont blau und rot flimmern. Ein Polizeiwagen mitten auf dem Highway, Umleitung nach links. Wir biegen in die nach Westen führende Landstraße ein, fahren bis zur nächsten Einmündung in eine Farm und kramen die Landkarten heraus. Es sieht nicht allzu schwierig aus, weiter westlich führt im spitzen Winkel eine weitere Landstraße wieder zurück nach Osten auf die 41, die Straßen bilden quasi ein Dreieck. Wir fahren los, außer uns noch ein weiteres Auto mit einem Kennzeichen aus Delaware, also ebenfalls Ortsfremde, die anscheinend auch ihren Weg zurück suchen.
Als wir dann am Ende der nach Osten führenden Landstraße wieder an der 441 stehen, sind wir leider immer noch südlich des Unfalles, aber von hier aus kann man ihn schon sehen. Ein Lkw hat einen Pkw im Straßengraben unter sich begraben, die Fahrerkabine liegt auf dem Dach des Pkw, es sieht gruselig aus. Das Frühjahr soll hier sehr regnerisch gewesen sein, die Gräben sind voller Wasser, hoffentlich hat man die Leute bergen können.
Also wenden wir wieder, jetzt müssen wir uns neu orientieren. Nirgendwo ein Sheriff, keine Umleitungswegweiser, der Unfall ist ja wohl auch gerade erst passiert. Die Leute aus Delaware halten neben uns in einer Einfahrt, der Fahrer, ein älterer Herr kommt zu uns herüber. Ob wir wüßten, wie es jetzt hier weitergeht. Wir gucken gerade, sagen wir, wir haben aber nur oldschool Landkarten. Da lacht er selbstironisch, er hätte zwar newschool electronic devices, aber damit könne er nicht umgehen, die Karte mache was sie wolle, aber nicht was er will.
Wir gucken also gemeinsam auf unsere Karten und stellen fest, daß wir jetzt bis zu einem Ort namens Basinger müssen, von dem aus man wieder nach Norden und später zurück nach Osten fahren kann. Basinger kommt mir bekannt vor, aber ich denke, es ist wohl die Assoziation mit Kim, der Schauspielerin.
Kurz vor Basinger steht dann auch ein Polizeiwagen und winkt die Fahrzeuge in die richtige Richtung, und die führt nun wirklich tief ins – ja, was ist das eigentlich hier? Sugarland liegt hinter uns, Lakeland vor uns, wir sind irgendwo dazwischen, in einer Gegend, in der die wenigen Farmen verstreut zwischen endlosen Weiden liegen. Ab und zu ein prächtiges Farmhaus, das zeigt, daß vereinzelt doch noch einer ein gutes Auskommen mit der Landwirtschaft findet. Auf den meisten Grundstücken nur heruntergekommene Gebäude, die aussehen wie Unterkünfte für Landarbeiter, manche schon Ruinen, gelegentlich ein einzelnes Auto davor. Den Schicksalsgenossen aus Delaware haben wir schnell verloren, der hat es eilig und heizt mit einem Tempo dahin, daß unser silbernes Fünkchen da nicht mithalten kann. Jetzt sind wir ganz allein auf weiter Flur, weder vor noch hinter uns ein anderes Auto.
Gedanken an Wrong Turn kommen auf, dazu passend dunkle Wolken, die sich über uns zusammenbrauen. Hier möchte man nachts keine Reifenpanne haben. Trotzdem finde ich es interessant und mag es auch, es ist eben auch Florida, die arme Seite, die schmuddelige, sie ist authentisch und sie hat Geschichte. Wo wir hier so lange geradeaus zwischen Rinderweiden fahren, fällt mir nämlich wieder ein, woher mir die Kleinstadt Basinger bekannt vorkommt. Auf genau diesen Landstraßen hier, die sich ziemlich gerade von Bradenton bis Fort Pierce ziehen, verlief die Strecke, auf der früher die Rinderherden zum Atlantik oder an den Golf getrieben wurden, um dort verschifft zu werden, der Florida Cracker Trail. Und Basinger markiert dabei ungefähr die Hälfte, wir sind also mittendrin.
Der Trail existiert natürlich in seiner ursprünglichen Form nicht mehr, wird aber jedes Jahr im Frühjahr als historische Großveranstaltung durchgeführt, die die Erinnerung an das Erbe der landwirtschaftlichen Bevölkerung Zentralfloridas, der Cracker, wach halten soll. Der Trail ist immer recht gut besucht, sowohl was die teilnehmenden Reiter, als auch die Zuschauer betrifft. Seit der Pandemie ist die Teilnehmerzahl nochmals erstaunlich gestiegen, wahrscheinlich stillt das eine Sehnsucht nach dem Freiheitsgefühl, das man bekommt, wenn man das Leben der Cracker nachstellt, durch die Weiten von Zentralflorida reitet und dabei die Peitsche knallen läßt.
Woher der Begriff Cracker für die floridianische Landbevölkerung stammt, darüber sind sich die Historiker ja uneins, die meisten tendieren zu der Annahme, es käme eben von jenem „crackling“ Geräusch, das die knallenden Peitschen verursachen. Den Pferden, die daran gewöhnt sind, macht das übrigens nichts aus, die sind quasi schußfest.
So einen Langstreckenritt durch das Land finde ich toll, und würde ich in Florida leben, wäre ich da wohl sehr gern dabei. Die Videos von den Ritten schaue ich daher auch jedes Jahr; teilweise finde ich das Reenactment mit der vielen in die Luft-Ballerei übertrieben, aber im Prinzip mag ich den Gedanken hinter der Veranstaltung sehr. Da ich auf Westernaussrüstung auch eher verzichten, nicht vorgeben würde, die Nachkommin eines Cracker darstellen zu wollen und mich neutral kleiden würde, wäre ich vielleicht sogar vor dem Vorwurf der kulturellen Aneignung sicher.
In diesem Jahr ist das Video vom Ritt geradezu künstlerisch geworden und vielleicht transportiert es ein bißchen, daß auch diese vermeintlich öde Landschaft ihre reizvollen Seiten hat:
https://www.youtube.com/watch?v=ktATPBBWx3Y
Als wir dann wieder an der 441 ankommen, sind wir endlich nördlich des Unfalls und können weiter nach Norden fahren. Der Abstecher ins zentralfloridianische Hinterland findet an der nächsten Auffahrt auf den Turnpike sein Ende, und die ist in Yeehaw Junction. Wer geübt hat, kann es ja jetzt korrekt aussprechen.
https://www.youtube.com/watch?v=UigHP5bUqJQ
Yeehaw Junction ist für uns Touristen nur eine Auffahrt auf den Turnpike. Für Floridianer ist es quasi ihr Kamener Kreuz, die bekannteste Kreuzung des Landes, und das schon seit weit über 100 Jahren. Jeder ältere Floridianer verbindet damit nostalgische Kindheitserinnerungen an das Gasthaus, dessen Besuch auf der Durchreise gen Süden den Beginn oder das Ende des Urlaubs markierte. In dem Glauben, das legendär gute Essen des Desert Inn auch irgendwann noch probieren zu können, entwarf ich nach dem letzten Florida-Besuch 2018 die heutige Tour. Nicht ahnend, daß es dazu nicht mehr kommen würde.
2019 wurde das genau in einem der spitzen Winkel der Kreuzung liegende historische Gebäude des Desert Inn vollständig zerstört, als ein Lkw beim Abbiegen seitlich in das Gebäude fuhr. Als wir uns der Kreuzung nähern, kann man die Ruine schon aus einiger Entfernung erkennen. Näher heranzufahren trauen wir uns nicht, laut der Beschilderung an den Baustellenzäunen soll es sogar verboten sein, die baufälligen Überreste zu fotografieren. Ganz sicher wollen wir uns hier keinen Ärger einhandeln, ein Foto möchte ich aber schon, es wird vielleicht die letzte Gelegenheit sein. Also halten wir kurz auf einer Brachfläche auf der gegenüberliegenden Seite an, auf der gerade ein paar Straßenarbeiter Pause machen und gleichfalls hinüberschauen. Wahrscheinlich haben sie auch so ihre Erinnerungen an den Ort. Das Internet ist voller melancholischer Nachrufe auf das Desert Inn und die Kreuzung, die im späten 19. Jahrhundert, als die Gegend noch dünner besiedelt war als heute, vermutlich wirklich so etwas wie die Oase in der Wüste darstellte.
Unter den dunklen Regenwolken sieht es irgendwie postapokalyptisch aus, das Gebäude mit der aufgerissenen Seite, die Bauzäune. Was aus dem Desert Inn werden wird, ist unklar. Klar ist nur, daß das Land um Yeehaw Junction kürzlich an einen Großinvestor verkauft wurde und geplant ist, hier eine Trabantenstadt mit der Zielgruppe Snowbirds nach dem Vorbild von „The Villages“ zu errichten.
Nun, wer wäre man, als durchreisender Tourist, der bald wieder in sein sicheres soziales Netz im Heimatland zurückkehrt, den Bewohnern dieser strukturschwachen Gegend die Entwicklung zu gönnen, die vielen Arbeitsplätze, die ihnen dies bringen wird. Aber dennoch, die Sumpfgebiete nördlich von hier bis Lakeland, die Agrarlandschaft, die verlorengehen, der massive Bevölkerungszuwachs mit dem Florida weiterhin rechnet und der hier größer ist als in fast allen anderen Bundesstaaten. Es ist schwierig, hierzu etwas anderes als eine ambivalente Meinung zu haben.
Ziemlich sicher wird, was von dem historischen Yeehaw Junction noch übrig ist, in den nächsten Jahren verschwinden. Wir werfen einen letzten Blick zurück, dann geht es wieder in die Gegenwart, der nächste Rastplatz auf dem Turnpike ist unserer und es schlägt der Gong zur nächsten Runde Suse vs. Burgerlady.
Vor mir eine endlose Schlange Soldaten, die die Bestellsäulen belagern, von daher gehe ich an den Tresen und sehe gerade noch rechtzeitig, daß hier nur Barzahlung ist und checke schnell mal die Geldbörse. Eine nette ältere Dame steht da, die gut verständliches Englisch spricht. Ich bestelle also meine medium Sodas ohne Eis, die auch hier aus der Fountain kommen, dazu meine Whopper, only the sandwiches. Es scheint alles zu klappen, aber mein Weltbild gerät erneut ins Wanken, als sie mich freundlich fragt, ob ich meine Whopper mit Käse möchte. Vor meinem geistigen Auge blitzen pinke Gelnägel und buschige Kunstwimpern auf. Ich dachte Whopper gibt es nicht mit Käse, sage ich dümmlich. Die Frau ist ungefähr so alt wie ich, schaut mich aber irgendwie mütterlich-mitfühlend an, als wenn sie ahnen würde, daß mich traumatische Erfahrungen plagen, und sagt sanft: Ja, eigentlich sind Whopper ohne Käse, aber wir können welchen drauftun, wenn sie möchten.
Unfaßbar. Ich habe Whopper mit Käse und trabe stolz wie Oskar nach draußen zum Auto. Nach dem Essen geht es zügig weiter, das Wetter sieht überhaupt nicht gut aus. Nicht nur das drohende Gewitter macht uns Sorgen, auch der Gedanke an unsere Unterkunft.
Wir haben uns ein Days Inn auf dem Orange Blossom Trail ausgesucht. Günstig ist es, aber die Bewertungen sind unterirdisch, was wir leider zu spät bemerkt haben, richtig schlimm sind die. Was tun wir nun, lassen wir es drauf ankommen oder suchen wir etwas anderes? Wir entscheiden, es erstmal anzugucken, und fahren los. Der Starkregen erwischt uns kurz vor der Abfahrt, aber der Ehemann steuert den Wagen unverdrossen. An jeder Brücke bekommt der Spark eine Wasserfalldusche. Es ist so schnell vorbei, wie es gekommen ist, und als wir auf den Parkplatz des Motels einbiegen, fällt uns auf, daß die Hausnummer des im Internet so schlecht bewerteten Days Inn um ungefähr viertausend von unserem abweicht.

Später stellen wir fest, daß es zwei gibt, eines im nördlicheren Abschnitt des Orange Blossom Trail, eines weiter südlich. Wenn man den Bewertungen glauben darf, ist das nördlichere besser zu meiden.
Unseres heißt mit vollständiger Bezeichnung Days Inn Orlando Airport Florida Mall und sieht nicht nur von außen ok aus, es ist auch innen gepflegt. Wir bekommen wunschgemäß ein Zimmer im Erdgeschoß, mit zunehmendem Alter bei schwerem Gepäck wird das langsam wichtig.
Das Zimmer ist schön, mit großem Bad. Der Pool gleich nebenan, und wenn man mal von der etwas zerrissenen Bestuhlung absieht, ist alles sehr gepflegt. Auf der Anlage befindet sich eine Hochzeitsagentur, die Stretchlimousinen parken vor der Tür. Da wir ja ein Erdgeschoßzimmer haben, bekommen wir ab und zu etwas von größeren Menschengruppen mit, die durch die Anlage laufen, dann ist es kurzfristig etwas laut, aber kein wirkliches Problem.
Das Internet ist schnell, jedes Zimmer hat seinen eigenen Router. Frühstücken könnte man in einem kolumbianischen Café auf dem Gelände, aber das tun wir gar nicht. In der Nähe gibt es alle Einkaufsmöglichkeiten, vom Walmart bis zum größten Dollar Tree, den wir je gesehen haben, außerdem einen McDonalds genau gegenüber. Aber das allerbeste ist, einmal links abgebogen und dann nur eine Viertelstunde gerade aus und man ist im Gatorland!