Wenn ich ehrlich bin, habe ich zunächst von Miami nicht viel gehalten. Weil ich natürlich glaubte, es zu kennen, ohne je dagewesen zu sein. Miami Vice, Miami Sound Machine, Gloria Estefan und Sheila E., das war ja nicht nur Popkultur, das war ein Lebensgefühl, mit dem wir in den 80er Jahren groß wurden. Aber eben auch eines, das die Stadt in eine Schublade preßte, ein bißchen oberflächlich, keine echte Kultur weil eben keine richtige Geschichte, eine pastellfarbene Plastikwelt ohne Substanz. Bevor ich das erstemal hinfuhr, glaubte ich, dort wenig zu finden, das mich interessieren könnte.
Eigentlich interessierte mich zunächst nur eines: Jai Alai. Kennengelernt hatte ich es Anfang der 90er im alten Casino in Macao und wußte von daher schon, daß Miami einer der wenigen Plätze auf der Welt war, in dem es noch einen aktiven Fronton gibt, in dem am Wochenende live Spiele stattfinden.
Jai Alai ist das schnellste Ballspiel der Welt, nicht ganz ungefährlich (außer für die Zuschauer) und hatte bis in die 90er Jahre seine Blütezeit, vor allem in Florida. Vermutlich stirbt es aus und das wird auch vielleicht gar nicht mehr lange dauern. Wir waren, genau wie bei der letzten Reise, auch diesmal wieder nicht über ein Wochenende in Miami und somit gar nicht bei einem Spiel, von daher gehört es auch diesmal eigentlich wieder nicht hier her. Aber wenn es der Sache nützt, will ich die Aufforderung gern zum Running Gag im Reisebericht machen: Geht hin, schaut es Euch an. Es ist kostenlos, der Fronton ein historisches Gebäude, es gibt ein kleines Museum und Ihr sitzt garantiert als einzige Touristen unter Locals. Das Spiel ist spannend (mit etwas undurchschaubaren Wettregeln) und der Fronton auch leicht zu finden, gar nicht weit vom Flughafen.
Dann zeigte mein Mann mir den Ocean Drive. Und anstelle von Schuhkartonbutzen, die pink und rosa angeleuchtet werden, damit sie nicht ganz so „flimsy“ aussehen, standen da diese wunderschönen Gebäude im Stile des Miami Modern, die ich so gar nicht erwartet hatte und die mich, als jemanden der das Bauhaus und modernistische Architektur sehr schätzt, wirklich umhauten. Ich glaube, ab diesem Moment kam das Interesse auf an der Stadt, an der mehr dran zu sein schien als auf den ersten Blick erkennbar war. Nachdem wir gemeinsam mit sich auf Kreyol unterhaltenden Menschen im McDonalds in Little Haiti gestanden, die historischen Motels auf dem Biscayne Boulevard und die Wynwood Walls gesehen hatten, war mir längst klar, daß meine ursprünglichen Vorurteile mich gar nicht gründlicher hätten täuschen können. Den Stadtteil Miamis, der mich so neugierig machen sollte wie kein anderer, hatte ich bis dahin aber noch gar nicht entdeckt.
Im Rahmen einer Facebookgruppe erhielten wir Mitglieder vor einiger Zeit die Bitte, uns an einer Petition zum Erhalt eines historischen Conch-Hauses in Miami zu beteiligen. Die Petition unterschrieb ich natürlich, kaum daß ich ein Bild des betroffenen Holzhauses aus dem späten 19. Jahrhundert und ein Video über die bislang darin lebenden und von Vertreibung bedrohten Bewohner sah. Als Berliner, ganz besonders als jemand, der selbst zugezogen ist, ist es ja irgendwie oberste Bürgerpflicht, ein Herz für von Gentrifizierung bedrohte Menschen zu haben.
Aber der ersten Petition folgten in den kommenden Monaten viele weitere und die meisten waren nicht erfolgreich. Die Häuser wurden abgerissen, die Bewohner umgesiedelt. Der vom Verlust seiner historischen Wurzeln bedrohte Stadtteil, um den es da ging, war Coconut Grove. Coconut Grove, das war für mich bis dahin der Titel eines Liedes von den Lovin‘ Spoonful, das ich bislang für eine Hippiephantasie von einem Ort gehalten hatte, an dem man die Türen nicht verschließen muß, weil sich alle lieb haben.
https://www.youtube.com/watch?v=bncb8hvpslg
Daß tatsächlich der real existierende Bezirk Miamis damit gemeint sein mußte, wurde mir schnell klar, als ich anfing, mich für die Conch-Häuser und ihre Geschichte zu interessieren, von denen ich bis dahin gar nicht gewußt hatte, daß sie in Miami überhaupt zur traditionellen Architektur gehörten. Und je länger ich mich damit beschäftigte, desto spannender wurde es. Hatte man eine Geschichte entdeckt, taten sich zahlreiche weitere auf, die alle irgendwie zusammenhingen wie in einer Telenovela, bis man bei den Ursprüngen angelangt war, als die ersten, von den Bahamas stammenden Auswanderer, sich hier in den Hammocks niederließen.
Nicht nur, weil die Bahamas und auch Key West nicht mehr Teil der Reise waren und ich Conch-Häuser sehen wollte, war also ein Besuch in Coconut Grove Pflicht, sondern auch, weil ich den Stadtteil um seiner selbst willen sehen wollte, der mir nach all den Petitionen und dem Mitfiebern, ob es gelingen würde, ein Haus zu erhalten, schon unbekannterweise ans Herz gewachsen war.
Am nächsten Tag sitzen wir also vor dem Lexington, schauen dem Treiben vor dem Raucherplatz zu und sichten die Google-Maps-Ausdrucke mit der Wegbeschreibung. Das ist sehr entspannt, weil wir jetzt keinen Zeitdruck mehr haben, den angeblich kostenlosen Parkplatz am Straßenrand um 9 Uhr räumen zu müssen.
Wir haben kein Navi und brauchen normalerweise auch keines, weil wir mit einem Florida Atlas & Gazetteer von DeLorme unterwegs sind, der uns auch auf dieser Reise manchmal bessere Dienste als jedes Navi leisten wird. Schon morgen werden wir froh sein, ihn zu haben. Einziges Manko ist, er hat keine Stadtpläne, daher die Ausdrucke.
Kurz hinter der Abzweigung zum Key Biscayne kommt die Abfahrt, die uns nach Coconut Grove hineinführt. Der Bayshore Drive ist gesäumt von großen, prächtigen Häusern, die an Pflanzervillen erinnern, aber die Atmosphäre ist ruhig, fast dörflich. Erst als wir den CocoWalk erreichen, das Einkaufszentrum und heutige Herzstück von Coconut Grove, wird es belebter. Bis hierhin kommen die meisten Besucher und diese Stelle ist es auch, die die meisten meinen, wenn sie sagen, sie waren in Coconut Grove. Mit dem historischen Teil des Viertels hat das aber nur mehr wenig zu tun. Wir fahren die Hauptstraße ein Stück weiter, wo man unser Ziel schon von weitem hellblau leuchten sehen kann: Das Coconut Grove Playhouse.
Das Playhouse ist von allen vom Abriß bedrohten Gebäuden hier wohl dasjenige, das den Anwohnern am meisten am Herzen liegt. Auch hierzu gab es eine Petition und zum Zeitpunkt unseres Besuches ist über sein weiteres Schicksal noch nicht entschieden. Still gelegt ist es schon lange, der Parkplatz hinter dem Gebäude ist jetzt ein öffentlicher und hat sogar einen Parkautomaten. Zum Glück habe ich ja noch das Foto unseres Nummernschilds, das ich vorm Lexington gemacht habe, damit registriere ich den Wagen und zahle mit der Kreditkarte. Warum kann das nicht immer so einfach sein?
Wir parken im Schatten am Ende des Parkplatzes, von wo aus man schon Stirrup’s Haus sehen kann. Ich bin genau da, wo ich hinwollte!
Der Ehemann findet das alles nur mäßig interessant, er wäre die Straßen gern nur mit dem Auto abgefahren, mir reicht das aber nicht, ich will herumlaufen, die Häuser in Ruhe anschauen und fotografieren. Wir verabreden also, uns für die nächste Stunde zu trennen und später vor dem kleinen State Park gegenüber zu treffen. Daß er sich dann entscheidet, im Auto sitzen zu bleiben und Musik zu hören, wird sich später noch als Glücksfall herausstellen, als eine Politesse kommt und den Wagen aufschreiben will, weil wir nicht über die App im System registriert sind. Ob auf dem Armaturenbrett ein aus dem Automaten gezogener Parkschein liegt, kontrolliert sie von sich aus gar nicht. Parkautomaten scheinen inzwischen überall so selten zu sein, daß sie auch hier, wo es noch einen gibt, gar nicht mehr genutzt werden und man statt dessen wild auf ihren Smartphones herumwischende und über die mangelhafte Funktionalität der App fluchende Amerikaner herumstehen sieht.
Zu dem Zeitpunkt bin ich schon lange am Playhouse vorbei in der Charles Avenue unterwegs. Hier ist niemand auf der Straße, es ist wie ausgestorben. Es ist tatsächlich wie in den Nebenstraßen von Key West hier, nur daß die Einnahmen aus dem Tourismus nicht üppig sprudeln, das merkt man. Die Häuser sind nicht alle in gutem Zustand, hier hat kaum jemand einen Pool, dafür sind die Gärten üppig, teilweise verwildert, die Zäune mit Bougainvillea überwuchert, in den Bäumen große Geweihfarne, ein auf die Straße geschobener Basketballkorb, die Autos betagt. Genau so habe ich es mir vorgestellt.
Daß ich hier herumlaufe und die Häuser fotografiere wundert oder besorgt niemanden. Die Videokamera wird erst morgen zum Einsatz kommen, hier ist es dazu zu unbelebt, aber ich glaube, auch das hätte hier niemanden gestört. Immerhin stehen hier zwei der ältesten Häuser Miamis, neben dem Haus von E.J. Stirrup das von Mariah Brown, zweier der ersten Auswanderer von den Bahamas, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hier niederließen und – für Schwarze eine damals ja ungeheure Errungenschaft – Land- und Hausbesitzer waren.
Eigentlich beginnt die Geschichte von Coconut Grove aber ganz woanders, nämlich auf Long Island vor New York. Hier lebte der Bootsbauer Ralph Munroe und entwarf wunderschöne Segelyachten, wobei es wohl auch geblieben wäre, wäre seine Frau nicht an Tuberkulose erkrankt.
Des gesundheitsförderlichen Klimas wegen brachte er sie in die Biscayne Bay, wo es damals nichts gab, was jemand von altem Ostküsten-Geldadel gewöhnt gewesen sein dürfte. Ein kleines Wohnheim für gestrandete Seeleute, betrieben von einer abenteuerlustigen englischen Familie namens Peacock, auf der anderen Seite des Miami River das Anwesen einer Pflanzerfamilie namens Brickell, die mit den Ureinwohnern Handel trieb, im wesentlichen war es das. So etwas wie ein Gasthaus gab es nicht und die Familie Munroe, die auf Long Island in einer prächtigen Villa lebte, mußte zelten. Offenbar waren sie Naturburschen, das Leben gefiel ihnen und sie freundeten sich mit den Peacocks an, aber es nützte alles nichts, Mrs. Munro wurde nicht wieder gesund und in Coconut Grove beigesetzt. Es war die Familie Peacock, die den Witwer auffing und in ihre Familie aufnahm, und er dankte es ihnen durch eine lebenslange Freundschaft und das Startkapital für das erste Gasthaus der Gegend, das Peacock Inn.
Im Laufe der Jahre fanden viele der bahamesischen Einwanderer Arbeit im Peacock Inn, auch Mariah Brown, die damit ihren Grundbesitz finanzierte und ihr Haus baute. Die Gäste des Hotels wiederum bestanden zu einem großen Teil aus Ralph Munroes Ostküstenfreunden, reichen Geschäftsleuten und Bildungsbürgern, die das rustikale Leben in der tropischen Umgebung schätzten. Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich hieraus eine vermutlich einzigartige Symbiose, die vielleicht so nur in Key West ein Pendant hatte. Eine weltoffene Gesellschaft weißer Bürger die in einer gleichberechtigten Gemeinschaft mit den schwarzen Einwanderern lebten. Daß der lokale Einzelhandel schwarzen Geschäftsleuten gehörte war ebensowenig ungewöhnlich wie gemeinsame Gottesdienste und gemeinsame Friedhöfe. Es mag sicher nicht alles reibungslos gegangen sein, aber wirkliche Segregation war unbekannt.
Viele sprichwörtliche Weichen für Miamis Zukunft und ganz nebenbei auch die der Everglades wurden in Coconut Grove gestellt, vor allem, als Großgrundbesitzerin Julia Tuttle (nach der der Causeway benannt ist) Henry Flagler überredete, die Eisenbahn bis Key West zu verlängern. Damit war Coconut Groves Zeit als friedliche Gemeinschaft beendet. Coconut Grove wurde eingemeindet, die Hammocks abgeholzt, das Peacock Inn irgendwann abgerissen, die Plantagenarbeiter verarmten, die Schere der Klassenunterschiede begann zu klaffen, und das ist bis heute so.
Coconut Grove gelang es, sich in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts neu zu erfinden, als Hippie-Hochburg. Dort, wo das ehemalige Peacock Inn stand, entstanden Festivals, Straßenfeste, Sit-Ins, auch hier stand „The Grove“, wie das Viertel nun genannt wurde, Key West in nichts nach. Der Ruf hallte bis in die 80er Jahre nach, als viele namhafte Künstler im Coconut Grove Theater auftraten.
Und nun sind es die Investoren, die ihre gierigen Finger nach den alten Häusern ausstrecken. Nicht die Häuser sind es, die dabei interessieren, die Grundstücke, auf die große weiße Klötze gesetzt werden, die zwischen den kleinen Bungalows völlig unproportioniert wirken.
Während ich so herumlaufe, entdecke ich einige Häuser, die ich von Fotos kannte. Darunter drei alte Shotguns, die zu den ältesten in Miami zählen.
Über die Grand Avenue, auf deren gegenüberliegender Seite ein paar heruntergekommene Condos keinen einladenden Eindruck machen, gehe ich nicht.
Auch den großen Friedhof, der parallel zur Charles Avenue verläuft, schaue ich mir nicht näher an, weil man über den Zaun auch genug sehen kann und es mir hier auch ein bißchen zu einsam ist. Womit ich den größten Fehler des Tages begehe, aber das wird mir erst Abends klar, im Moment bin ich zu beschäftigt, mich in dem Straßengewirr zurechtzufinden.
Der Ehemann wartet vor dem Eingang zum Parkplatz und gemeinsam gehen wir hinüber zum kleinen State Park auf der anderen Straßenseite. Was da heute besichtigt werden kann ist das Grundstück, das Commodore Munroe sich zulegte, als er sich schließlich dauerhaft in Coconut Grove niederließ. Zeitlebens baute er innovative Segelyachten, experimentierte mit dem Entwurf von polynesischen Auslegerkanus und hurricansicheren Bootshäusern und veranstaltete die erste Regatta auf der Biscayne Bay. The Barnacle ist seine Villa, die auf einem sanft zur Bucht abfallenden Grundstück liegt, auf dem zwischen Palmen bequeme Sessel auf dem Rasen stehen, in denen man sich als Besucher niederlassen kann. Es ist hoch informativ und wunderschön hier und auf jeden Fall einen Besuch wert. Eintritt kostet es keinen.
Nach all dem sind wir halb verdurstet und nehmen einen Absacker in einem der Hipsterlokale am CocoWalk. Völlig andere Welt hier, aber wenn man die Passanten beobachtet, entdeckt man schon noch so denen einen oder anderen Übriggebliebenen, der in das Lied von den Lovin‘ Spoonful zu passen scheint und zwischen den feinen Damen mit den operierten Nasen hindurch sein rostiges Fahrrad Richtung Charles Avenue schiebt. Dann gehen wir zurück zum Parkplatz, ich tätschele zum Abschied den himmelblauen Putz des Playhouse mit dem ungewissen Schicksal und mir ist ein bißchen melancholisch zumute.
Am Abend, als der Ehemann den Abend auf der Raucherterrasse bei der allabendlichen Parade von Fahrzeugen, die in Deutschland aus verschiedensten Gründen niemals eine TÜV-Plakette kriegen würden, ausklingen läßt, sitze ich oben im Zimmer und arbeite die Eindrücke des Tages auf. The Grove, was daraus wohl werden wird, das beschäftigt mich schon. Für diejenigen, die das jetzt auch wissen möchten, kommt hier der erlösende Spoiler: Es gibt ein Happy End! Noch während wir auf Reisen sind, kommen nach und nach die guten Neuigkeiten an.
Das Stirrup-House wird ein Bed and Breakfast, es hat kürzlich eröffnet:
https://stirruphouse.com/
Das Playhouse wird erhalten und renoviert:
https://www.islandernews.com/news/miami ... 4aa5c.html
Und das Allerschönste: Coconut Grove wird zum Historic District „Little Bahamas“
https://wilson.house.gov/media/in-the-n ... as-history
Der Bezirk wird relativ groß und wird auch die gesamte Charles Avenue mit einbeziehen. Für jemanden, der bis noch vor gut einem Jahr gar nicht wußte, daß Coconut Grove nicht nur in einem Lied existiert, bin ich tatsächlich überraschend bewegt von der Tatsache, daß die Politik unerwartet ein Einsehen hatte.
An jenem Abend, als das ja alles noch Zukunftsmusik ist, gehe ich allerdings eher frustiert zu Bett. Als ich online nachvollziehe, wo ich heute überall entlanggegangen bin, fällt mir plötzlich auf, welchen Fehler ich gemacht habe, den Friedhof links liegen zu lassen. Na gut, bei all den Facetten, die Coconut Grove hat, kann schon mal eine untergehen.
Der Charlotte Jane Memorial-Cemetery ist der Friedhof, auf dem sie Thriller gedreht haben. Und da ich von einer in diesem Jahrtausend geborenen Person bereits gefragt wurde, wie denn der Thriller hieß, den sie da gedreht haben: Es ist nicht irgendein Thriller, es ist natürlich DER Thriller.
https://www.youtube.com/watch?v=sOnqjkJTMaA
Das hätte nicht passieren dürfen! Nun werde ich also nochmal nach Coconut Grove müssen. Vielleicht wohnen wir dann im Stirrup House, wer weiß.