Der Strand am nördlichen Ende Foas birgt ein Geheimnis, das nur bei Ebbe freigelegt wird, und dessen Entdeckung vor knapp zehn Jahren alle bis dahin gängigen Ansichten über die Migration der polynesischen Völker auf den Kopf stellte.
Genau hier, in der weiten Linkskurve, die der Strand hinter der Matafonua Lodge beschreibt, entdeckten 2009 zwei australische Archäologen auf den flachen Platten des fossilen Korallenriffs zahlreiche Petroglyphen, fast identisch mit gleichartigen Abbildungen an verschiedenen Fundorten in Hawai’i, die auf ungefähr 1500 vC zu datieren sind.
In den regelmäßig von Naturkatastrophen gebeutelten Inseln Ozeaniens, in denen kaum etwas die Jahrtausende überdauert, wenn man von ein paar getöpferten Werken der Lapita-Kultur einmal absieht, so daß die Geschichtsforschung somit in weiten Teilen auf Mutmaßungen und Wahrscheinlichkeitsannahmen angewiesen ist, ein Fund von unschätzbarem Wert. Sollte man meinen.
Daß die Korallenplatten nicht direkt in ein Museum auf Tongatapu geschafft wurden, erstaunt mich zuerst. Zwar wird auch in der Lüneburger Heide über bronzezeitlichen Opfersteinen nicht gleich ein schützendes Häuschen errichtet, aber diese sind auch nicht so sehr den unvorstellbaren Kräften eines Tsunamis oder eines Zyklons ausgesetzt. Daß der Fundort der Steine dann aber nicht einmal gekennzeichnet ist, finde ich wiederum gut. Das Selberfinden ist der halbe Spaß und es dauert tatsächlich eine ganze Zeit, in der ich das gesamte Riff dreimal ablaufe, bis ich die ersten Petroglyphen entdecke.
Eine Schildkröte, einen Fisch und etwas, das aussieht wie das Profil von Killroy, den wir Schüler schon in der prä-Graffiti-Ära der Siebziger Jahre gern überall hinkritzelten, meine ich zu erkennen.
Daß die Petroglyphen nicht die Anerkennung bekommen, die sie nach Ansicht ihrer Entdecker verdienen, mag auch daran liegen, daß Ha’apai generell eine für eine polynesische Insel recht hohe Dichte an bedeutsamen historischen Ereignissen zu verzeichnen hat.
Nicht nur, daß hier die Christianisierung und damit Einigung der bis dahin verfeindeten Königshäuser der Inselgruppen ihren Ursprung nahm. Hier meuterte die Besatzung der Bounty und hier sank die Port au Prince und verschaffte den Ha’apai-Inseln ihre eigene Legende vom versunkenen Goldschatz, die sich hinter der der Seychellen und La Buse nicht zu verstecken braucht.
Die Geschichte der Port au Prince, eines englischen Kaperschiffs, ist längst nicht so bekannt wie die der Bounty, aber ebenso spannend. Wer von dem Schiff noch nicht gehört hat, kennt hingegen vielleicht den Namen William Mariners, der als Schiffsjunge an Bord der Port au Prince den Untergang überlebte und von einem tonganischen Häuptling adoptiert wurde, der ihn so schätzen lernte, daß er ihn später sogar in die Heimat zurückkehren ließ. Zum Glück für den Rest der Menschheit, denn es wurde ein recht angesehener Reiseschriftsteller aus ihm, der über noch nicht dagewesene Insiderkenntnisse über Tonga verfügte. Wer seine Erlebnisse lesen möchte, sollte „Nachrichten aus Tonga“ googeln, das Buch kann man in einer digitalisierten Version sogar im Original oder auch halbwegs bequem in Sütterlin lesen.
Die Suche nach den Petroglyphen macht vor allem bei Nacht mit entsprechender Beleuchtung Sinn, da die Einkerbungen dann gut sichtbare Schatten werfen sollen. Bei Niedrigwasser geht es tagsüber aber genauso gut, da dann der größte Teil des fossilen Riffs frei liegt und man gut darauf herumklettern kann. Da dies heute ausgerechnet um 11:30 h eintritt und mich die Suche nach den Steinzeichnungen so fesselt, daß ich alles andere vergesse, handele ich mir das ein, das ich in 10 Tagen Luahoko trotz spärlichster Bekleidung vermeiden konnte: Ich habe einen Sonnenbrand.
Das stechende Gefühl auf der Haut erinnert mich dann irgendwann daran, jetzt doch mal langsam aus der Sonne zu gehen und ich wandere durch den Wald zurück zu Fale Hiva. Auf dem schattigen Pfad, der vom Matafonua-Strand zum Friedhof der Kinderkleider führt, sehe ich dann auch endlich die ersten Farne dieses Urlaubs. Sie sind hier plötzlich zahlreich, vor allem die fertilen Wedel sehen aus wie Phymatodes, Tausendfüssler-Farn, wie er auch auf La Digue entlang der Wege von der Grand Anse bis zur Anse Cocos häufig ist. Da ich keine Botanikerin bin, kann ich das nur anhand der Ähnlichkeit schätzen, späteres Nachschlagen bestätigt es allerdings. Es ist ein Farn, der mir gut gefällt, da er durch die Verschiedenartigkeit der juvenilen Wedel und der adulten Pflanze recht abwechslungsreich aussieht und überhaupt sehr tropisch wirkt. Ich freue mich, überhaupt ein paar Farne zu sehen, in einem Tropenurlaub ohne die von mir favorisierten Pflanzen, da hätte mir direkt etwas gefehlt.
Der Tag ist ja noch jung, der Mister, der, jetzt, wo er wieder Strom satt hat, schon in Luahoko-Erinnerungen schwelgt und Purzelfotos sichtet, ist auch unternehmungslustig, so daß wir uns Fahrräder mieten. Wie überall auf der Welt sind die Mieträder eine Wundertüte, bei dem ersten, das Duncan mir gibt, verabschiedet sich direkt der Lenker. Auch sonst sind die Dinger merkwürdig, anstelle einer Kette haben sie Gummiriemen mit kettengliederartig ausgestanzten Aussparungen. Die Technik funktioniert so lala, allzu kräftig darf man nicht in die Pedale treten, dann fliegt die „Kette“ ab.
Wir radeln den schnurgerade verlaufenden Inselhighway entlang und passieren irgendwann Darrens Waldgrundstück, an dem wir an unserem Ankunftstag zur Ziegenkontrolle angehalten haben, und nun klärt sich, welches große Tier damals im Gebüsch herumraschelte und in mir die Assoziationen zu der Jurassic Park-Szene auslöste. Am Zaun, umringt von den kleinen Ziegen, steht ein junges Pferd, ein hübscher Fuchs, vielleicht zwei Jahre alt. Das bestaussehendste Pferd der Inseln, wie Darren uns später voller Besitzerstolz sagt. Was vermutlich keine Kunst ist, denn andere Pferde auf Tonga müssen in diesem zarten Alter sicher längst harte Arbeit verrichten.
Es dauert auch nicht lange, bis wir ein Vergleichsobjekt sehen. Faleloa, das kleine Dorf, dem die beiden Resorts offiziell angegliedert sind, ist eine Ansammlung einfacher tropischer Häuser mit mehr oder weniger gepflegten Gärten und vor allem vielen kleinen schuhkartonartigen Stelzenhäusern, die, wie ein Schild erläutert, nach Zyklon Ian aus Mitteln eines US-amerikanischen Katastrophenfonds errichtet wurden. Dazwischen große Grasflächen, auf denen sich die allgegenwärtigen Schweine tummeln, die Leibspeise der Tonganer, die zu festlichen Anlässen im Umu, dem Erdofen, zubereitet werden. Außerdem angepflockte Pferde, gut genährt und generell nicht vernachlässigt, aber auch nicht wirklich gepflegt.
Die Pferde Ozeaniens gelten nicht als eigenständige Rassen, es ist inselübergreifend eher eine mehr oder weniger homogene Population, die optisch noch ein wenig an ihre Vorfahren erinnert, die vermutlich spanische Pferde gewesen sein dürften, die über Südamerika hierher gelangten. Tongas Pferde gelten als besonders sanft und freundlich, was gut ist, denn geritten wird üblicherweise ohne Sattel. Auch die Exemplare, die wir hier antreffen, werden anscheinend gut behandelt, sie sind Streicheleinheiten gegenüber jedenfalls aufgeschlossen und wirken tiefenentspannt.
Ungefähr in der Ortsmitte erwartet uns eine Überraschung. Selbst ein kleiner Ort wie Faleloa kann mit mehreren Kirchen unterschiedlicher religiöser Ausrichtungen aufwarten, seien es die Siebentagsadventisten, die Wesleymethodisten, die Kirche der Heiligen der letzten Tage oder - man glaubt es kaum - die Kirche zum Heiligen Einsiedlerkrebs.
Wären wir am Sonntag noch hier, müßten wir den Gottesdienst besuchen, egal welche Glaubenslehre sich dahinter nun wirklich verbergen mag. Nicht nur, weil die Tonganer schöner singen sollen als alle anderen Völker Polynesiens, sondern auch um der armen Kerlchen zu gedenken, die seit unserer Abreise vermutlich mit knurrenden Mägen unter dem Purzelbaum auf Luahoko sitzen und auf Papayas und Kokosnüsse warten.