Die große Zahl der Landeinsiedlerkrebse fällt in dem Moment auf, in dem man die Insel betritt. Bereits am Strand sind sie zahlreich, um die Hütte herum sind sie in einer Menge vertreten, die wir so noch nicht gesehen haben. Winzigkleine, mittlere, große, in Schneckenhäusern unterschiedlichster Form und Farbe. Daß sie hier in dieser Menge vorkommen, ist mit Sicherheit auf den Umstand zurückzuführen, daß die hier mehr oder weniger regelmäßig wohnenden Touristen freigiebig mit ihren Essensresten sind.
Da die Insel vor unserer Ankunft eine Zeitlang unbewohnt war und die armen Krebse somit auf die vergleichsweise karge Kost angewiesen waren, die eine normale Tropeninsel so abwirft, reagieren die mit einem feinen Geruchssinn ausgestatteten Tiere auf den Duft der Tomatensoße wie eine Herde Shetlandponys auf das Knistern eines Bonbonpapiers und kommen angaloppiert.
Jetzt merkt man erst, wie viele es wirklich sind. Es sieht aus, als sei der Boden unter unseren Füßen lebendig geworden, aus allen Himmelsrichtungen streben sie so schnell sie können auf uns zu, geraten sich in die Quere, kullern über Stöcker, Steine, Wellblechplatten und einander. Und weil das so niedlich aussieht, wie sie da aufgeregt zu unseren Füßen hin und her purzeln, taufen wir sie kurzerhand so.
Am ersten Abend bleiben leider keine Reste übrig, um die Purzel glücklich zu machen, aber Ameisen und Fliegen hätten sicher noch ihre Freude an den in den Töpfen klebenden Resten. Leider hat die vor der Reise ausdiskutierte Aufgabenverteilung das Geschirrspülen mir eingebrockt.
Es wäre uns wohl ohnehin bewußt gewesen, aber spätestens die witterungsbedingt verzögerte Anreise hat uns dafür sensibilisiert, wie sehr wir hier draußen von den Bedingungen abhängig sind, die die Natur diktiert. Möglicherweise wird sich ja auch die vorgesehene Abholung verzögern, wenn das Wetter nicht mitspielt. Egal, welchen Wert unser Fotoequipment und sonstige Spielereien der Unterhaltungselektronik so haben mögen, die da oben den Tisch im Fale vollmachen - das Süßwasser in den Kanistern ist von jetzt an unser wertvollster Besitz und wir gehen entsprechend sparsam damit um. Ich könnte mir überhaupt nicht vorstellen, es für das Spülen des Geschirrs zu verschwenden, und schleppe den ganzen Kram nach dem Essen an den Strand.
Eine halbe Stunde später und reichlich zerzaust bin ich zurück. Noch habe ich die Technik nicht heraus, die verhindert, daß gespülte Plastikteller im Wind davonfliegen, während mich die Strömung halb umreißt, obwohl ich nur bis zu den Knöcheln im Wasser stehe. Das Schrubben der Töpfe mit Korallensplit klappt von Anfang an ganz gut. Das Laufen am Strand allerdings weniger. Der Sand ist grob und durchsetzt mit großen Korallenstücken und Muschelscherben, die sich ständig zwischen Füße und Flipflops quetschen, so daß sich ein von leisen „autschautschautsch“-Rufen untermaltes Otto Waalkes-artiges Hüpfbild entwickelt, während ich das saubere Geschirr zurücktrage. Das kann man mit reduzierter Geschwindigkeit direkt beibehalten, wenn man den Dschungelpfad erreicht hat, der vom Strand zum Haus führt, denn ab hier gilt es den Purzeln auszuweichen, was in der Dämmerung nicht einfacher wird.
Einer von ihnen leistet uns bei unserem ersten Sonnenuntergang auf der Insel Gesellschaft.
Die Nacht bricht früh herein und wie überall in bewaldeten Gegenden ohne Lichtverschmutzung wird es hier so stockfinster, daß man die sprichwörtliche Hand vor Augen nicht mehr sieht. Wir ziehen uns auf unsere Veranda zurück. Jetzt, wo die Pflichten erst einmal erledigt sind und wir zur Ruhe kommen, werden wir uns unserer Umgebung erst richtig bewußt.
Wir haben offensichtlich einen Nachbarn, ein missgelaunter Tölpel wohnt irgendwo links von uns in einem Baum und tut gelegentlich seinen Unmut über unseren Musikgeschmack kund. Im Laufe der Zeit finden wir heraus, was er mag und was nicht. Bei Nelson Riddles „Lamento“ lauscht er schweigend, bei Aquas „Barbie Girl“ gibt es gekrächzte Beschwerden wegen Ruhestörung. Ist wohl schon ein älterer Tölpel.
Ansonsten wird die Stille nur durch das Rauschen des Blattwerks und vom Klacken der aneinanderstoßenden und von
irgendwelchen Baumstämmen oder Wellblechstapeln herunterkullernden Purzel gestört, Laute, die menschengemacht anmuten, an die wir uns aber schnell gewöhnen. Weder sind wir angespannt noch besorgt. Wir rechnen zu keinem Zeitpunkt damit, Opfer von Kriminalität zu werden.
Es ist keineswegs so, daß Tonga das Paradies der in ewiger Glückseligkeit vor sich hin dösenden Menschen wäre. Auch hier gibt es Unzufriedenheit, gerade durch die Auslandserfahrungen werden Begehrlichkeiten erweckt, Drogengebrauch ist nicht selten. Genau genommen hat das Land die klassische Entwicklung Marihuana -> Heroin -> Crack übersprungen und sich direkt dem Crystal Meth zugewandt. Regelmäßig werden in dem kleinen Hafen auf Tongatapu enorme Mengen hops genommen und die Schmuggler zu hohen Haftstrafen verurteilt. Es gibt alle mit dem Drogengebrauch einhergehenden Begleiterscheinungen wie gesteigerte häusliche Gewalt und Beschaffungskriminalität.
Tonga verfügt jedoch über eine Legion unbewohnter, einsamer Inseln, so daß es mehr als unwahrscheinlich ist, daß ausgerechnet hier irgendwelche Schmugglerbanden oder andere Tunichtgute vorbeikommen sollten, die dumm genug wären, die Gäste des größten Arbeitgebers von Ha‘apai zu belästigen. Lediglich ein paar Fischer könnten eventuell einmal Rast machen, erklärte uns Darren bei der Ankunft, zu befürchten hätten wir aber nichts, die Menschen seien freundlich. Was er nicht wissen konnte, war, daß wir die Frage nach eventuellen Besuchern eigentlich mehr mit dem Hintergedanken gestellt hatten, wie bekleidet wir denn am Strand so sein müßten, um sittenstrenge tonganische Fischer nicht etwa mit dem Anblick unserer Alabasterkörper zu traumatisieren.