Lake City, eine Kleinstadt mit ungefähr 12.000 Einwohnern, stellt aufgrund ihrer strategisch günstigen Lage an der Kreuzung zweier Interstates einen idealen Ausgangspunkt dar, Nordflorida zu erkunden. Hier liegen zahlreiche beschwimmbare Quellen innerhalb des Tagespendelbereiches, um es im Behördensprech auszudrücken. Die Stadt selbst hat auf den ersten Blick nicht viel Interessantes. Das ändert sich, wenn man länger hier ist und genauer hinschaut.
Die Mitarbeiterin des Stadtrandmotels, in dem wir auch auf der letzten Reise schon gewohnt haben, ist erfreut, daß wir so lange zu bleiben gedenken. Normalerweise steigen ja hier nur Durchreisende ab. Für uns ist es ideal, wir werden ohnehin – zumindest glauben wir das zu diesem Zeitpunkt noch – nur zum Schlafen hier sein, es ist günstig, es gibt Frühstück, Waschmaschine und Trockner, und nicht zuletzt einen Pool, den man als Dauergast meistens ganz für sich hat. Wir bekommen einen Rabatt für unseren Langzeitaufenthalt und richten uns häuslich ein. Die limettenfarbigen Klappstühle bekommen ihren Platz vor der Zimmertür. Diese Art von Freisitz bietet natürlich nicht die Privatsphäre eines eigenen Hotelzimmers mit Balkon, aber die Kontaktaufnahme mit den Eingeborenen ist dafür fast unvermeidlich. Man muß das natürlich mögen.
Am Nachmittag hat der Regen aufgehört und wir unternehmen eine kleine Stadtrundfahrt. Mr.minolta muß nachschauen, ob alles beim Alten ist, und so steuern wir zuerst den See an, dem die Stadt ihren Namen verdankt, den Alligator Lake. Möglicherweise ist es aber auch umgekehrt, denn bevor Lake City Lake City hieß, hieß zunächst die Stadt selbst „Alligator“, und so mag auch der See nach dem Ort benannt worden sein, der bereits von den Seminolen aus Gründen so getauft wurde, die man sich unschwer denken kann.
Lake City ist eine typische amerikanische Flächenstadt mit einem großen Geschäftsviertel in der Nähe der Autobahn und riesigen Grundstücken mit Mobile Homes in den waldreichen Randgebieten. Es gibt aber auch eine historische Altstadt in der Nähe des Sees mit schönen alten Villen und ein paar lokalen Besonderheiten. In der Marion Street, in der ungefähr der Kern der Altstadt liegen sollte, liegt leider einiges im Argen. Die Stadt bemüht sich, die historische Bausubstanz zu erhalten, aber es stehen viele Geschäfte leer, darunter auch eines, auf das wir uns bereits sehr gefreut hatten. Ein Antiquitätengeschäft, das vor allem mit Literatur, alten Gemälden, nachkolorierten Drucken und originalen Postkarten aus dem Florida der Quellen handelte. Ich mag es, solche Dinge, die meist ja auch nicht sehr teuer sind, als Ergänzung ins Fotoalbum zu kleben. Wir waren letztes Mal mehrfach hier und recht gute Kunden, was trotzdem nichts daran änderte, daß die beiden alten Damen, die den Laden betrieben, tagein tagaus eine für ältere amerikanische Ladies ungewöhnlich verkniffene Miene zur Schau trugen. Nun ist der Laden weg, die Schaufenster leer und wir gucken dumm und enttäuscht. Nun werde ich wohl nicht mehr zu meiner antiken Postkarte von Aunt Aggies Boneyard kommen, die ich beim letzten Mal aus unerfindlichen Gründen nicht gekauft habe, obwohl ich die Geschichte spontan faszinierend fand.
Aunt Aggies schauriger Garten aus aus Tierknochen gefertigten Skulpturen war eine Attraktion und Besuchermagnet im frühen 20. Jahrhundert, als der Tourismus hier oben im Norden Floridas bereits eine feste Größe war, lange, bevor Flaglers Overseas Railroad, auf der jetzt Fred und Fred jr. wachsen, die Keys für Besucher erschlossen.
http://www.floridamemory.com/blog/2015/ ... al-garden/
Aunt Aggie ist aber bei weitem nicht das Unheimlichste, das Lake City zu bieten hat. Nur wenige hundert Meter die Marion Street hinunter tut sich etwas in Sachen Erhalt des historischen Erbes. Das Blanche Hotel wird renoviert, nachdem es jahrzehntelang leer stand, soll es nun wiedereröffnet werden. Man darf gespannt sein, wie es von den Besuchern angenommen wird, insbesondere die Räume im dritten Stock, denn hier spukt es. Verschiedene Besucher und Geschäftstreibende berichten von Türenschlagen, Kinderlachen und anderen Geistererscheinungen. Das hat über viele Jahre prominente Gäste wie Johnny Cash nicht davon abgehalten, hier zu wohnen, aber der dritte Stock ist dennoch seit langem für die Öffentlichkeit gesperrt. Nicht einmal der Fahrstuhl, der älteste Floridas übrigens, fährt bis dort hinauf.
Ich finde das Gebäude, dessen Sanierung noch nicht sehr weit fortgeschritten scheint, schon vom Bürgersteig gegenüber gruselig. Wer weiß, was sich hinter den verschlissenen Raffstores, die die Flügel und Oberlichter der Fenstertüren bespannen, wohl verbirgt. Mit Sicherheit haben die Dinger noch Al Capone persönlich erlebt, der früher regelmäßig auf der Durchreise von Chicago hier abstieg.
Nachdem wir seit Miami keinen Walmart mehr von innen gesehen haben, haben sich gewisse Entzugserscheinungen entwickelt, gut also, daß Lake City ein Walmart Supercenter hat, das 24/7 geöffnet ist. Eine ausgiebige Shoppingtour später sind wir versorgt mit Getränken und Freßkram, das mit etwas Nachdruck auch alles in den kleinen Kühlschrank des Motelzimmers paßt.
Gegen Abend hat es endlich etwas aufgeklart, wir sind anscheinend ganz allein im Motel und belegen den Pool mit Beschlag. Die amerikanischen Pools werden üblicherweise meist am Übergang zwischen Nichtschwimmer- und Schwimmerbereich durch ein Seil abgetrennt, so daß man immer darunter durchtauchen muß. Da weit und breit niemand zu sehen ist, schon gar kein Kind oder anderer Nichtschwimmer, traue ich mich mal, das Seil einfach auszuhaken und auf den Poolboden sinken zu lassen, damit ich vernünftig hin- und herschwimmen kann. Das Ganze fängt dann auch gerade an so richtig Spaß zu machen, als das nächste Gewitter einsetzt. Das nahe Blitzen und Donnern macht mich im Wasser ziemlich nervös, da ich ja jetzt erst noch das Seil vom Boden heraufholen und einhaken muß, was mit meiner sehstärkenangepaßten Schwimmbrille, mit der ich über Wasser aber nicht wirklich gut sehen kann, nicht einfacher wird. Dann fluchtartig raus aus dem Pool und ohne sich richtig abzutrocknen, was im Platzregen ja auch wenig Sinn machen würde, hinüber zum Zimmer, wo man dann den Boden volltropft. Nervig, das alles. Aber trotzdem schön, so einen Pool für sich ganz allein, das ist für mich Luxus.
Für den nächsten Tag nehmen wir uns endlich eine Quelle vor. Jetzt, wo wir wieder Fernsehen haben, sagt uns der Wetterbericht eine einheitliche Durchmischung aus Sonne und Regenschauern mit gelegentlichen Gewittern voraus. Das Wetter ist am nächsten Morgen dann aber doch so regnerisch, daß wir während des Frühstücks die Pläne ändern und uns eine „Indoors“-Aktivität aussuchen. Eigentlich ist dieser Ausflug zunächst nur der Lückenbüßer, entwickelt sich aber zu einer der erfreulichsten Überraschungen dieses Urlaubs.